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Podcast gegen den An- und Verkauf von Verschwörungsmythen (3)

Gespräch über antisemitsche Narrative unter Crash-Propheten

 

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Der Podcast gegen den An- und Verkauf von Verschwörungs­mythen (3/3)

 
Gespräch über antisemitsche Narrative unter Crash-Propheten
 

– mit Dr. Michael Blume –

produziert von achtsegel.org im Auftrag von Moment mal!

Transkription von „Der Podcast gegen den An- und Verkauf Verschwörungsmythen 3/3“

Hinweis: Die wörtliche Übertragung wurde im Interesse einer besseren Lesbarkeit leicht bearbeitet.

Im Interview: Dr. Michael Blume, Landesbeauftragter gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg im Gespräch über antisemitische Narrative unter Crash-Propheten. 

Moderation: Fabian Jellonek von achtsegel.

Fabian Jellonnek: Herzlich willkommen zu unserem Podcast gegen den An- und Verkauf von Verschwörungsmythen. Guten Morgen auch nach Stuttgart, denn da sitzt mein Gast zur heutigen Folge. Ich spreche heute mit Dr. Michael Blume, dem Landesbeauftragten gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg. Wir werden natürlich auch ganz viel über antisemitische Tendenzen in der Goldanleger-Szene bzw. unter diesen Crash-Propheten sprechen. Spannend finde ich aber auch, dass mein Gast vor Jahren ganz anders mit diesem Thema in Berührung gekommen ist. Herr Blume, erzählen Sie doch mal: Wann ist Ihnen dieses Phänomen zum ersten Mal begegnet?

Dr. Michael Blume: Ein herzliches „Hallo“ Ihnen und allen Hörerinnen und Hörern. Ich finde es toll, dass Sie sich des Themas annehmen, weil ich glaube, da werden wir heute einiges entdecken. Wie Gold, Verschwörungsmythen, Antisemitismus zusammenhängen, das habe ich natürlich auch nicht immer gewusst. 

Ich habe ursprünglich eine Bankausbildung gemacht. Ich komme aus einer Familie aus der ehemaligen DDR, meine Eltern sind in den Westen entkommen, geflohen. Mein Vater war sogar in Haft, das war eine recht dramatische Geschichte. Und was macht man dann als Arbeiterkind? Man macht erst mal eine Ausbildung. Und so habe ich eine Bankausbildung gemacht und habe damals schon erlebt, dass Menschen Angst gemacht wurde um ihr Geld und dass sie Gold kaufen sollten. 

Ich  wurde einmal dafür belobigt hatte, dass ich eine ältere Dame davor bewahrt hatte, ihre gesamten Altersersparnisse vom Konto abzuheben vor der Euro-Einführung und in Gold zu stecken. Sie hätte einen riesigen Verlust gemacht, und ihr wurde einfach Angst gemacht. Das  gab es also damals schon, dass da Menschen mit Gold- und Verschwörungsmythen Geld verdient haben. Ich habe danach angefangen mit Volkswirtschaft, habe dann Politik und Religionswissenschaft studiert, Doktorarbeit Religion und Hirnforschung. Habe das eigentlich immer nur am Rande weiter mitverfolgt. 

Und dann war es im letzten Jahr, dass der Attila Hildmann – der ja wirklich ein Antisemit und ein radikalisierter Mensch ist, völlig durchgedreht -,  sogar der in der Lage war, seinen Anhängerinnen und Anhängern sogenannte Siegfriedstaler zu verkaufen. Das sind Medaillen, die haben keinen Münzwert, man zahlt ein Mehrfaches des Metallwerts an Gold oder Silber. Diese Leute machen riesige Verluste, und dieser –  wenn ich mir erlauben darf zu sagen – durchgeknallte Antisemit war in der Lage, seinen Anhängern das Zeug zu verkaufen. Und da hat es bei mir Klick gemacht. Da habe ich gesagt: Das müssen wir uns anschauen. Was ist denn da los, warum ist das mit dem Gold immer so eine Geschichte? Und dann sind ja einige Publikationen daraus geworden und wir merken, dass das Thema ja tatsächlich sehr groß ist.

FJ: Gehen wir nochmal kurz zurück zu dem Vorfall, den Sie da in der Bank erlebt haben. Das heißt, da ist eine ganz normale Bankkundin zu Ihnen gekommen und hat von heute auf morgen gesagt, sie vertraut Ihrem Bankinstitut nicht mehr und will stattdessen ihr komplettes Erspartes in Gold anlegen?

MB: Ganz genau. Das gab es also damals auch schon. Wir nennen das heute sogenannte Crash-Propheten. Das sind Leute, die sagen, es bricht bald alles zusammen. Die da oben wissen das schon, die Zentralbanken und die Juden und die PolitikerInnen, die wissen das, die stecken dahinter. Das heißt, du musst jetzt dein Geld noch abheben und ganz schnell in Gold investieren, weil in ein paar Wochen oder in ein paar Monaten hier alles zusammenbricht. Und diese Dame kam dann an den Schalter – ich war Azubi – ganz ängstlich, mit einem Flyer, auf dem  Goldbarren abgebildet waren und flüsterte mir zu, sie müsste jetzt ihr ganzes Geld dahin überweisen. Und das war durchaus einiges, das war eine Dame, eine Witwe, die über ein erhebliches Sparvermögen verfügte. 

Ich habe damals als Azubi eben gesehen, okay, hier läuft was nicht. Die Geldwäsche-Gesetze in Deutschland sind ja leider ein Witz, man kann da relativ wenig machen gegen Geldwäsche, aber ich habe dann der Dame gesagt, dass ich eine Freischaltung bräuchte durch den Filialleiter, und habe sie dann quasi zum Filialleiter gebracht. Und der hat ihr das dann ausreden können. Und dann gab es die Belobigung. Aber tatsächlich hätte die Dame ihre Altersversorgung dubiosen Verschwörungsunternehmern anvertraut und mindestens einen Riesenverlust erlitten, wenn nicht noch mehr.

Mit Esoterik und Gold abzocken

 FJ: Sie sagen, das ist kein Zufall, sondern diese Szene wendet sich tatsächlich gezielt auch an Privatkunden und versucht Otto Normalverbraucher Angst zu machen um sein Geld.

MB: Ja. Es ist natürlich so, dass auch zum Beispiel Querdenken, diese Verschwörungsbewegung, von vorneherein hier im Süddeutschen entstanden ist und eher ein zahlungskräftiges Publikum im Auge hatte. Die  Situation von Arbeitslosen oder Alleinerziehenden, die ja teilweise wirklich gerade in der Covid-19-Pandemie ganz schlecht war, hat die nie interessiert. Das zielte von Anfang an auf ein gutbürgerliches Publikum, das man mit Esoterik und Gold abzocken kann. 

Da hatten wir zum Beispiel den Max Otte, der ja später sogar noch Chef der sogenannten „Werteunion“ wurde, der dann allen Ernstes in Stuttgart auf einer Querdenker-Demonstration verkündet hat, die Covid-19-Pandemie diene der Bargeldabschaffung. Man muss sich das mal vorstellen: Da wird den Leuten gesagt, „Vorsicht das ist alles eine große Verschwörung, die wollen an unser Geld“. Und wenn sie es schaffen, uns Schwaben Angst um unser Bargeld zu machen, dann sind sie reich. Das ist relativ klar, und natürlich verkauft auch der Max Otte Gold, bzw. Produkte, Anlagen, die mit Gold bestückt sind, und schwurbelte schon vor Jahren davon, dass der Goldpreis steigen würde auf über 2000. Seine Bücher heißen „Weltsystemcrash“, er kündigt ständig einen Crash an, ständig den Zusammenbruch, und zieht sich eine Kundschaft heran aus verängstigten Leuten, die ihm dann ihr Geld anvertrauen. Der Einzige, der da wirklich gut dran verdient, ist er. Wenn man sich diese Fonds anschaut, schneiden die alle unterdurchschnittlich ab, und der Goldpreis ist auch nach Jahren – 2006 hat er das, glaube ich, das erste Mal angekündigt – , nicht über 2000 Euro gestiegen.

FJ: Kann man das pauschal sagen, dass es für einen Privatkunden überhaupt keine interessante Geschichte ist, jetzt das Geld in Gold anzulegen? Würden Sie da sagen, es ist bei den Banken eigentlich besser aufgehoben?

MB: Ich würde persönlich sagen, das Gold ist eine hoch spekulative, unnütze Anlage. Es gibt Riesen-Umweltschäden beim Abbau, es produziert gar nichts, es verursacht nur Lagerkosten, und das Gold, das in Industrie oder Schmuck gebraucht wird, das ist längst da. Von dem her würde ich, wenn ich jetzt in einem Gespräch als Finanzassistent wäre, tatsächlich sagen:  Wenn es unbedingt sein muss, dann als geringe Beimischung, aber lassen Sie sich auf keinen Fall ihr Geld in Gold anlegen. 

Ich würde es auch nicht unbedingt nur mehr bei den Banken sehen, weil es nun mal so ist, dass wir immer weniger Kinder haben, der sogenannte Asset-Meltdown, also immer weniger Leute, die Kredite aufnehmen, die Zinsen sind niedrig, teilweise gehen sie schon ins Minus. 

Ich würde empfehlen: Investieren Sie in Menschen, entweder in einen Aktienfonds oder noch besser, in eine Solaranlage, in ein Elektroauto, in ein Haus, in die Bildung Ihrer Kinder. Also investieren Sie in das Leben und lassen Sie sich nicht mit einer toten Anlage wie Gold abspeisen. Das ist nämlich das Gefährliche daran: Hinter Gold steckt eine große Verschwörungsmythologie, über die Jahrhunderte angewachsen. Und den Leuten wird gesagt, das Gold schützt euch vor Verschwörungen.

Und jetzt stellen Sie sich einfach vor, Sie haben sich das einreden lassen und haben über Jahre hinweg Tausende oder sogar Zehntausende von Euros investiert. Das nennt man sogenannte sunk costs, also versenkte Kosten. Anstatt sich selber zuzugeben, „du, Schatz, das war jetzt blöd von mir, ich habe die letzten fünf Jahre einen Teil von unserem Sparvermögen sinnlos vergeudet“, gehen wir dann dazu über zu sagen: „Nee, jetzt wird es dann aber bald passieren, der Ken Jebsen hat es ja schon gesagt, der Michael Wendler auch, und jetzt wird es bald – Schatz, du wirst sehen, diese Anlage, die wird sich rechnen, denn am 15. September werden alle Geimpften umfallen, das hat ja der Michael Wendler gesagt, und dann ist Gold auf einmal ganz viel wert“. Das heißt, es verführt uns als Menschen, dass wir schlechte Anlagen sogar im Nachhinein mit immer weiteren Verschwörungsmythen rechtfertigen.

 

 Die Wette auf den Weltuntergang

 FJ: Es ist quasi eine Art Wette auf den Weltuntergang, der dann nicht eintritt?

MB: Sehr gut! Ja, so könnte man sagen. Also nicht unbedingt auf den Weltuntergang – die meisten Verschwörungsgläubigen glauben ja, dass die  Apokalypse sozusagen eine reinigende Krise ist, dass es danach dann besser sein wird. Aber sie glauben eben, dass dann alles Zentralbankgeld, das ja von den Rothschilds und von den verschwörerischen demokratischen Staaten quasi getauscht wurde, den Wert verlieren würde, und dann wäre eben Gold das einzige, was noch etwas wert wäre. 

Das ist zum Beispiel die Masche bei den Siegfried-Talern, die Attila Hildmann verkauft hat. Die nennen sich Taler, haben aber keinen rechtlichen Nennwert; es sind Medaillen, es sind keine Münzen. Man kann damit keinen Kaffee kaufen, nirgendwo auf der Welt. Das ist eben Gold und Silber mit einem vergleichsweise geringen Metallwert, und das wird zu einem Mehrfachen dieses Metallwerts verkauft. Und letztlich funktioniert das dann so, dass man immer noch einen noch Dümmeren finden muss, der einem das wieder abkauft, sonst hat man einen riesigen Verlust.

Und jetzt kann sich das bitte jede oder jeder vorstellen, was das mit einem macht. Jetzt hat man da 5000 Euro in diese sinnlose Anlage reingebuttert und muss sich jetzt selber eingestehen, nee, das war nicht so eine gute Idee, oder man eskaliert immer weiter. Und das ist ja das Gefährliche an Verschwörungsmythen, gerade auch in Zeiten des Internets: Man steigt leicht ein, und irgendwann landet man bei den Reptiloiden-Rothschild-Verschwörungen, wo die ganze Bundesrepublik nur eine GmbH sei und im übrigen die Angela Merkel im Dienst der Rothschilds stünde. 

Das heißt, da ist das so ein bisschen eine Einstiegsdroge. Man muss noch dazu sagen, dass es natürlich für Verschwörungsunternehmer dadurch interessant wird. Wir hatten hier eine Goldhandelsfirma in Baden-Württemberg, die hat Sucharid Bhakdi eingeladen, diesen Professor, der Verschwörungskram schwurbelt, und auch neulich Israel unglaublich übel beleidigt hat. Aber das zieht natürlich dessen Anhängerschaft, und dann können die Leute Gold verkaufen. Das heißt: wir sehen hier, Verschwörungsmythen sind auch einfach ein Geschäft.

FJ: Stichwort Rothschild: das ist ja eine antisemitische Chiffre, die über Jahrhunderte aufgebaut wurde. Ich würde an dieser Stelle unsere Kollegin von der Initiative Spiegelbild mit reinnehmen, die für jede Folge unseres Podcasts eine kleine Definition eines  Verschwörungsnarrativs beisteuern. Hören wir mal rein, was die Kolleginnen von Spiegelbild uns über die Familie Rothschild erzählen können:

 

Exkurs: Zum Begriff „Rothschild“

Warum im Antisemitismus Juden so oft im Bezug zum Geld auftauchen, andere aber nicht 

Wer ist die reichste Familie der Welt? Welcher Name kommt Ihnen spontan in den Sinn? Bei mir war zu diesen Fragen lange Zeit die Assoziation zur Familie Rothschild da. Und auch wenn ich bei Google „reichste Familie der Welt“ als Suchbegriff eingebe, wird mir als Ergebnis der Suche zuerst die richtige Antwort ganz zu Oberst angezeigt: Es ist aktuell mit Abstand die Familie Walton, Eigentümer der weltgrößten Handelskette Walmart. Direkt darunter werden aber „Ähnliche Fragen“ vorgeschlagen und da ist ganz weit Oben zu lesen, auf Platz 2, die Frage „Wie hoch ist das Vermögen der Rothschilds?“ Ich scheine also nicht die einzige zu sein, die vor allem diesen Namen mit großem Reichtum und Geld in Verbindung gebracht hat. Dabei ist die Familie Rothschild nicht mal unter den Top Ten, sondern im Vergleich ziemlich weit hinter beispielsweise der Familie Koch, der Familie Boehringer oder der Familie Albrecht.

Wieso fällt trotzdem vielen Menschen bei Geld und Reichtum zuerst eine jüdische Familie ein? Die Antwort ist kurz und schmerzhaft: Viele antisemitischen Stereotype und Erzählungen sind Teil des gesellschaftlichen Wissens und werden somit von allen verstanden, wenn sie auch nicht unbedingt geteilt werden. Die Assoziation von Jüdinnen und Juden mit Geld ist schon sehr alt.

Die Entstehung und die Ausbreitung des Christentums als Weltreligion ging einher mit der Entwicklung der Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden, ihrer Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die Struktur von Gesellschaft und Wirtschaft in der ständischen und zünftigen Ordnung des Hochmittelalters zog ihre Legitimation aus dem Christentum. Juden*Jüdinnen waren vom Warenaustausch weitgehend und von der Produktion nahezu gänzlich ausgeschlossen. Es wurden ihnen von Nicht-Juden*Nicht- Jüdinnen nur  wenige Berufe zugewiesen. Darunter auch der Geldhandel. Auch wenn mitnichten die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung reiche Geldverleiher waren, wurde ihnen diese Zuweisung des Geldhandels negativ ausgelegt und es verfestigte sich das Bild des ≫Juden als unbarmherzigen Geldmenschen≪.

Im modernen Antisemitismus aktualisierte sich dieses Motiv. Eine der wesentlichen antisemitischen Erzählungen tritt seit den Zeiten der Industrialisierung auf, als sich die bürgerliche Gesellschaft letztendlich durchsetzte. Sie beruht auf der Idee einer antimodernen Gemeinschaft (in der Regel „das Volk“), welche der Moderne gegenüber gestellt wird. Der modernen Gesellschaft an sich wird dabei unterstellt, angeblich traditionelle, harmonische und authentische Lebensformen zu zerstören, wobei ≫den Juden≪ eine wesentliche Rolle zugeschrieben wird: Sie seien für amoralische Verrohung und den damit verbundenen Materialismus sowie die ≫Geldwirtschaft≪ verantwortlich. Sie dienen dabei auch als Gegenbild zur angeblich moralischen, harten und ehrlichen Arbeit.

Geld, Reichtum, Bankenwesen, Börse und Kapitalismus bleiben als Abstraktes[i] unverstanden und der Hass über die eigene Ohnmacht in einer Gesellschaft, die wesentlich durch kapitalistische Produktionsverhältnisse strukturiert ist, wird auf ≫die Juden≪ projiziert. Anonyme und sozialstrukturelle Prozesse werden über Verschwörungen erklärt, die ≫Juden≪ angeblich im Verborgenen angezettelt hätten. Durch diese Personifikation von Macht erscheinen historische Ereignisse oder sozialer Wandel als beabsichtigt und geplant. ≫Die Juden≪ werden hier als vermeintlich greifbare Schuldige verantwortlich gemacht.

Die Nationalsozialisten nutzten dieses Motiv, um den Hass gegen „Juden“ weiter zu schüren. Neben der „Der Ewige Jude“ und „Jud Süß“ wurde 1940 der Film „Die Rothschilds“ in die Kinos gebracht. Auch in diesem Film stehen jüdische Bankiers im Zentrum der Handlung. Es geht um die Identifizierung „des Juden“ mit dem vermeintlich „raffenden“ Finanzkapital. „Die Juden“ werden als treulose, verschlagene Spekulanten und Intriganten dargestellt, die sich auf den europäischen Finanzmärkten frei bewegen würden, um – hinter den Kulissen wirkend – immer mehr Macht zu erlangen und Europa nach und nach zu unterjochen.

Die Parallelen zwischen diesem antisemitischen Propagandafilm und aktuellen Verschwörungslegenden sind beängstigend eindeutig. In den vergangenen Jahren kursierte gerade in der deutschen Querfront- und Verschwörungsszene ein Rothschild-Verschwörungsmythos, in dessen Erzählungen größtenteils dieselben Ressentiments weiterverbreitete wurden. Die jüdische Bankiersfamilie fungiert in solchen antisemitischen Verschwörungserzählungen als Platzhalter für „die Juden“ im Allgemeinen.

Doch diese Assoziation von Reichtum und Macht vor allem mit der jüdischen Familie Rothschild ist auch in der Breite der Gesellschaft vorhanden. Ich selbst hatte diese Assoziation noch vor ein paar Jahren quasi „automatisch“ im Kopf, bevor ich mich näher mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Und aus unserer Bildungsarbeit bei Spiegelbild wissen wir, dass sie bei vielen Menschen vorhanden ist, auch wenn diese Menschen sich sicher nicht als Antisemiten verstehen würden. Das zeigt, wie allgegenwärtig die antisemitischen Stereotype und Erzählungen in allen Bereichen der Gesellschaft anzutreffen sind.

Jüdischen Menschen signalisiert diese ständige Verknüpfung von Geld und „den Juden“, wie sie immer noch gesehen werden. Aus unserer Arbeit wissen wir auch, dass antisemitische Sprüche auf dem Pausenhof, die alltägliche Konfrontation mit dem Stereotyp des „reichen Juden“ bis zu judenfeindlichen Pöbeleien und Angriffen im öffentlichen Raum u.a. dazu führen, dass Betroffenen ständigen abwägen, ob sie sich nach Außen als Jüdinnen und Juden zu erkennen geben.

FJ: Willkommen zurück zu unserem Podcast gegen den An- und Verkauf von Verschwörungsmythen. Ich spreche weiter mit Dr. Michael Blume, dem Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg. Spannend fand ich jetzt in Bezug auf Familie Rothschild, was Sie auch gerade genannt haben, im Kontext von Zentralbanken. Kann man grundsätzlich sagen, dass um Zentralbanken herum auch alte antisemitische Verschwörungstheorien aufgebaut wurden, werden die Zentralbanken schon länger mit jüdischen Menschen in Verbindung gebracht?

Die Rothschilds sind an allem schuld, an allem sind die Rothschilds schuld

MB: Ja, es ist tatsächlich ein ganz alter Topos, der bis ins Mittelalter und bis in die Antike zurückgeht. Wenn wir historisch schauen, dann entsteht ja  Gold und Geld, das wir heute verwenden, in Babylon. Das ist am Anfang im religiösen Bereich, in Tempel und Staatsverwaltung, es sind Tauschgüter. Gold wird mit der Sonne verbunden, Silber mit dem Mond. Das heißt, auch diese haben keinen Wert an sich, sondern sind quasi Gegenstände, denen religiöse oder staatliche Autoritäten Wert zumessen. Man muss daran glauben, dass diese Dinge einen Wert haben. Sie sind Medien, Geld ist immer ein Medium, und Gold ist eben auch eines, oder Silber. Und das entwickelt sich dann immer weiter. Im Tempel von Jerusalem haben wir beispielsweise den Schekel, umgekehrt haben wir den Obolos in der griechischen Kultur; das ist eine Münze, mit der man sein Opfer abgeben kann, oder bestätigt bekommt, dass man sein Opfer abgegeben hat, ein Stieropfer. Deswegen übrigens haben die meisten Währungen, auch der Euro, bis heute diese beiden kleinen Striche. Das sind immer noch die Stierhörner, mit denen das dargestellt wird. Und es geht tatsächlich auf ganz alte religiös-mythologische Vorstellungen zurück und war deswegen immer auch ein bisschen sagenumwoben.

Also wie kommt es, dass aus einem Stück Metall plötzlich ein hoher Wert wird, wenn es in eine Münze gegossen wird? Und wer darf überhaupt  diese Münzen gießen? Wer darf die prägen? Da haben wir natürlich über Jahrhunderte immer auch wieder Fälschungen, Münzen verlieren ihren Wert. Gleichzeitig werden sie aber unbedingt gebraucht. Die Kirche hatte lange ein Zinsverbot, das heißt, Christinnen und Christen durften einander keine Zinsen abnehmen nach der offiziellen Lehre. In der Zeit wird dann häufig bei Juden Geld geliehen. Die werden dann häufiger in Finanzbereiche gedrängt, und so entsteht dann der Mythos von den vermeintlich wuchernden Juden, die die ganzen Finanzen kontrollieren würden, und die auch die Fürsten in der Tasche hätten. 

Wenn man heute sagt: Rothschild kontrolliert Angela Merkel, dann ist das ein uralter Verschwörungsmythos, noch mit einem Schuss Frauenfeindlichkeit  dabei, da gehen die immer richtig ab. Diesen Ur-Mythos haben wir also schon, als dann Christen Zinsen nehmen dürfen. Es gibt große Pogrome auch im Kontext der Pest. Während der Pest-Pogrome wurden die jüdischen Händler und Finanziers teilweise vertrieben oder ermordet, die Schuldscheine wurden vernichtet. Das finden wir immer und immer wieder, in Baden-Württemberg zum Beispiel noch im 18. Jahrhundert. Josef Süß Oppenheimer wurde vom Herzog geholt, er sollte die Finanzverwaltung modernisieren. Das gelingt ihm auch, als dann aber der Herzog stirbt, wird er Josef Süß Oppenheimer ohne ein faires Verfahren festgenommen, aufgehängt, hingerichtet. 

Und bis heute haben wir diesen Mythos – man denke nur an den Nazi-Film „Jud Süß“ -, der vermeintlich raffgierige Jude. Nun war Josef Süß Oppenheimer kein Heiliger, das ist ganz klar, aber seine Finanzreformen wurden auch nie rückgängig gemacht. Er hat  tatsächlich etwas geleistet, aber aus der Wahrnehmung der Leute musste ja jemand schuld sein. Wir können das sogar noch im 20. Jahrhundert bei Erzberger sehen, ein katholischer Zentrums-Politiker, der vor ziemlich genau 100 Jahren von Antisemiten ermordet wurde, weil er einmal einen Friedensvertrag geschlossen und unterzeichnet hat mit Frankreich, und zum anderen aber auch die Finanzverwaltung reformiert hat. Das sieht man, immer wieder kommen sofort Verschwörungsmythen auf.

Und jetzt versteht man auch, was dann im 19. Jahrhundert passiert ist: Die Ghettos werden teilweise aufgelöst, Juden gleichgestellt. Jetzt suchen sich die Verschwörungsmythen sozusagen Leute, wo sie sagen können, die sind an allem schuld. Und die Rothschilds, selber aus dem Frankfurter Ghetto, steigen auf, werden eine recht erfolgreiche Bank. Nie die mächtigste, nie die größte. Es gibt sie auch heute noch, es ist eine mittelständische Bankengruppe. Aber für die Verschwörungsleute ist klar: Der ganze moderne Staat, die ganze Republik, alles was mit Wahlen zu tun hat, mit Gleichberechtigung von Frauen zu tun hat, da stehen die Rothschilds dahinter. Es entsteht eine Obsession damit. 

Und wir haben dann sogenannte libertäre Antisemiten, wie den Tilman Knechtel, der hier aus Baden-Württemberg stammt und jetzt von der Schweiz aus seinen Hass verbreitet. Die verbreiten dann sogar, dass der Holocaust durch die Rothschilds ausgelöst worden sei. Die Juden hätten den armen Adolf Hitler „gezwungen“ – in Anführungszeichen, das ist natürlich wirklich übel -, hätten den Adolf Hitler gezwungen, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu veranstalten, um die Gründung des Staates Israel zu erreichen. 

Das sind dann Leute, die den Holocaust gar nicht mehr leugnen, sondern die ihn benutzen. Die sagen, der Holocaust, das waren die jüdischen und demokratischen VerschwörerInnen, und deshalb bin ich jetzt Sophie Scholl oder bin ich jetzt Anne Frank, und deswegen ist unsere gewählte Bundesregierung jetzt der neue Nazi-Staat. Und der Lauterbach ist irgendwie ein Ober-Nazi. Diese Leute drehen dann das ganze Narrativ um, und selbst am Nazi-Regime und selbst am Holocaust seien die vermeintlichen jüdischen Rothschild-Weltverschwörer schuld. Und da merkt man natürlich: das ist Wahnsinn.

 Man kriegt das Grausen.

 FJ: Es ist ja so, in dieser Crash-Propheten-Szene oder Goldanleger-Szene sind ja einerseits Leute, die -ich sag mal – sehr drastisch unterwegs sind, sehr eindeutig Verschwörungsnarrative verwenden, wo man eigentlich relativ schnell feststellen kann, dass da antisemitische Narrative mitspielen. Beispielsweise Thorsten Schulte würde mir da einfallen, der im Prinzip vor keiner Verschwörungstheorie Halt macht, und sei sie auch noch so …

MB: Der Silberjunge….

FJ: Gleichzeitig haben wir dann aber auch Leute wie einen Professor Otte,  – Sie haben ihn ja schon angesprochen – , die tatsächlich sehr darum bemüht sind, ihren bürgerlichen Auftritt nicht zu verlieren. Sie haben als Beispiel eine von ihm Rede auf einer Corona-Demonstration in Stuttgart genannt. Inwiefern würden Sie sagen, dass in solchen Botschaften auch antisemitische Narrative stecken?

MB: Es ist natürlich so, dass wir mit Goldfirmen zu tun haben, die sich ein sehr bürgerliches Antlitz zu geben versuchen. Ich hatte einen großen Krach mit Degussa, diese alte Firma, die ja tatsächlich damals in KZ-Geschäfte verstrickt war. Und ein Schweizer Milliardär, dessen Familie auch bereits die Nationalsozialisten bei der Machtergreifung unterstützt hatte, der hatte nichts Besseres zu tun, als Degussa wieder auf die Beine zu stellen. Heute haben sie in München in edler Lage eine große Degussa-Firma, die  mit diesen Versatzstücken auch spielt. Und ihr Geschäftsführer Markus Krall hat dann auch noch begonnen, hier von „Kulturmarxismus“-Verschwörungsmythen zu schreiben. Also die vermeintliche jüdische Verschwörung, die Frankfurter Schule, die unsere Demokratie unterwandert. Da habe ich gesagt, das geht nicht, stopp. Der ist wirklich vor Gericht gezogen und hat gedacht, er kann mit das untersagen; er hat natürlich verloren. Aber diese Leute haben Geld, die haben richtig Geld, das sie den Leuten abknöpfen, und die versuchen, auch Kritiker mundtot zu machen. Da kann man nur sagen, bitte nicht täuschen lassen; die Nazis hatten auch damals schon ihre bürgerlichen und konservativen Gehilfen.  Das sage ich als jemand, der selber einer bürgerlichen Partei angehört, der selber eine Banklehre gemacht hat, der selber bei der Bundeswehr gedient hat und nach allen Regeln der Kunst ein bürgerliches Leben führt. Aber ich muss eben sagen, es war nie so, dass Antisemiten nur aus irgendwelchen Glatzen bestanden hätten, hasserfüllten Gesichtern, sondern da waren immer auch Menschen dabei, die sich sehr bürgerlich gegeben haben. Ich würde jetzt natürlich nicht jede Goldhändlerin und jeden Goldhändler in diesen Kontext stellen wollen, da mag es auch welche geben, die seriös sind, die auf Beimischungen aus sind, die sagen, Leute, einen kleinen Teil eures Vermögens könnt ihr doch bei mir anlegen. Aber wenn man sich diesen ganzen Geschäftsbereich strukturell und die Firmen dahinter anschaut, dann kriegt man schon das Grausen. Da verstehe ich auch die Unruhe, wenn dann eine solche Messe zum Beispiel nach Wiesbaden kommt. Wer da mit offenen Augen schaut, wird da einiges finden, wo man sagt, „O Gott, das ist eigentlich nicht, was wir im 21. Jahrhundert noch haben wollen“.

FJ: Jetzt hat dieser Professor Otte auf dieser Demo davon gesprochen, die Corona-Pandemie sei quasi ein geplanter Vorgang, um den Leuten ihr Erspartes wegzunehmen bzw. das Bargeld abzuschaffen. Wenn wir einen Vorwurf in den Raum stellen, dass etwas geplant sei: inwiefern steckt da ein struktureller Antisemitismus dahinter, inwiefern ist das ein antisemitisches Narrativ?

MB: Die Schwierigkeit dabei ist eben, dass quasi alles, was schief läuft, in den Kontext dieser Verschwörungserzählung gestellt wird. Der  Crash-Prophet muss ja verkünden, „Kauft jetzt Gold, denn bald ist euer Geld nichts mehr wert! Das ist eine Verschwörung: die Zentralbanken gehören alle den Rothschilds oder anderen Verschwörern, ihr müsst euch jetzt in Sicherheit bringen!“. Und natürlich hatte der Herr Otte keinerlei Ahnung vom Covid-19-Virus und das kommt auch in seinen Crash-Prophetie-Büchern überhaupt nicht vor. Seine Prognosen gehen regelmäßig daneben. Aber als es dann da war, musste er draufspringen:  „Jetzt ist mein Crash da, was ich euch immer schon gesagt habe“. Das klingt lustig, ist es aber nicht, weil wir jetzt schon erleben, dass das auch umschwenkt auf die Klimakrise. Dieselben  Leute sagen dann: „Wir haben den Great Reset vom Weltwirtschaftsforum, und die ganze Klimakrise ist alles nur Fake, das Wetter wird manipuliert, CO2-Ausstoß ist gar nicht schädlich, und die ganzen Politiker, die ihr da wählt, die sind alle Teil dieser Weltverschwörung“. Da haben wir sogar einen Finanzwissenschaftler wie Stefan Homburg, der dann auf Twitter teilt, dass die Annalena Baerbock im Dienst von George Soros stünde wie vorher Angela Merkel auch. Da wird es nicht nur abstrus, sondern wirklich gefährlich. Das bedeutet nämlich auch, dass wir bei der nächsten Krise nach der Covid-19-Pandemie diese Verschwörungsgläubigen an der Backe haben werden. Wir haben es schon gesehen in Ahrweiler, als da die Hochwasser-Katastrophe war, sind gleich die Querdenker angerückt und haben die Schule besetzt. Ich muss leider sagen, diese Crash-Propheten werden auch künftige Krisen immer wieder versuchen auszubeuten, und sie werden verstärkt auch Klimaschutz und die Transformation unserer Wirtschaft angreifen.

Hauptsache Jude

 FJ: Stichwort der Name George Soros. Das ist ja seit einigen Jahren eine Art Lieblingsfeind in einer rechtsextrem motivierten oder beeinflussten Internet-Blase. Wie erklärt man dieses Phänomen? Dass ausgerechnet George Soros da so angegriffen wird?

MB: Ja, für die AntisemitInnen ist natürlich George Soros eine Hassfigur, zum einen, weil er den Holocaust überlebt hat, weil er darüber spricht. Er ist ein Anhänger von Karl Popper, er vertritt also einen aufgeklärten Liberalismus, er fördert Demokratiebewegungen, Bildung und so weiter. Und er ist eben auch reich geworden. Er hat nicht nur überlebt, er ist nicht nur für Antisemiten das verkörperte schlechte Gewissen, sondern dann ist er auch noch reich geworden, zum Teil eben auch mit Finanzspekulationen, im Wirtschaftsbereich. Das heißt, für AntisemitInnen fließt da praktisch alles zusammen. Es ist wirklich erstaunlich, denn wir haben auf der Welt ja wirklich viele Milliardäre, die auf Medien Einfluss nehmen, die auf Politik Einfluss nehmen – Gebrüder Koch in den USA oder der von mir vorhin erwähnte Milliardär hinter der Degussa. Aber das interessiert diese Verschwörungsgläubigen nie, die interessieren sich nicht dafür, dass es wirklich Menschen gibt, die versuchen mit Geld politischen Einfluss auszuüben, auf manchmal sehr unfeine Art. Es geht bei ihnen nur ab, wenn sie es gegen Jüdinnen und Juden richten lässt. Und das geht dann zum Beispiel auch bei jemand wie Bill Gates, der gar nicht jüdisch ist, dann eben schnell entweder selber zum Juden erklärt, oder in eine jüdische Weltverschwörung umgedeutet wird. Das erlebe ich sogar selber. Wer es nachschauen möchte: Anwalt Jun hat ein Video dazu gemacht (https://www.youtube.com/watch?v=zfnU2tAu-3s&t=3s). Ein Twitterer hatte öffentlich dazu aufgerufen, mich zu töten; ich sei ein falscher Jude, der seine Daseinsberechtigung verwirkt habe. Unsere Polizei, die Landespolizei in Baden-Württemberg, hat den ermittelt, aber die Staatsanwaltschaft in Sachsen hat die Ermittlungen eingestellt. Das sei nicht strafbar und ich sei ja selber schuld – Antisemitismusbeauftragter und dann noch mit einer muslimischen Ehefrau. Das war wirklich übel, und man kann sehen, dass Antisemiten sich entweder gegen vermeintliche jüdische Verschwörer richten, oder sich Juden erfinden. Für das, was wirklich abläuft, in den Finanzmärkten, im Bereich von Lobbyarbeit, im Bereich von Manipulation von Medien, Fox News, Murdoch, all diese Dinge – das interessiert diese Leute doch nicht. Die sind nicht kritisch, die sind einfach nur verschwörungsgläubig.

FJ: Das heißt also, der relevante Punkt ist, dass George Soros dann ein Jude ist. Das heißt, wir haben es wirklich mit Leuten zu tun, die sich, wie Sie gesagt haben, nicht an den Mächtigen abarbeiten, sondern sie arbeiten sich an jüdischen Menschen ab, oder Leuten, die sie…

MB: Ganz genau. Wir sehen ja, dass das auch eine beliebte Methode von Rechtspopulisten ist: Ich greife vermeintliche Verschwörer an, und auch wenn ich selber reich bin und eigentlich zur Elite gehöre, bringe ich dadurch ärmere oder verängstigte Menschen dazu, für mich zu stimmen. Das ist ja wirklich inzwischen ein Clue, der sich rumgesprochen haben sollte. Die konstruierte Weltverschwörung lenkt natürlich von den wahren Geschehnissen ab, die meist viel komplexer, aber auch viel interessanter sind. Und insofern ist das schon so, dass wir eine Art Bündnis haben zwischen libertären und rechtsextremen Kreisen, die sich auf ein Feindbild einigen, und die zum Beispiel sagen, es gibt den Kulturmarxismus, Weltverschwörung…. Und dann sind alle Parteien, alle demokratischen Parteien sofort unter Verdacht, dass sie Teil dieser Verschwörung sind. Dann wird der Staat als sozialistisch definiert, dann heißt es im nächsten Schritt, die Nationalsozialisten seien ja auch nur Sozialisten gewesen, und voilà, sie haben dann Leute, die sich einen Judenstern aufkleben und draufschreiben „Ungeimpft“, oder wie wir es in Stuttgart hatten, „Dieselfahrer“. Und sich damit allen Ernstes mit den Opfern des Holocaust gleichsetzen, diese damit auch verhöhnen, und gleichzeitig Demokratinnen und Demokraten als Nazis verhöhnen.

Das wirkt von außen immer so bizarr, dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, diese Gedanken nachzuvollziehen. Aber man kann sich Antisemitismus, Verschwörungsglauben, einfach so vorstellen: alles Böse wird aus sich selber abgespalten, alle Ängste, alles, was einen bedrängt, vielleicht auch alles, was einem an einem selber nicht so passt, und wird auf die vermeintlichen Verschwörer projiziert. Die sind dann böse und gewalttätig, die wollen mein Geld und die sind schuld an allem, was schiefläuft. Das macht die Welt für Verschwörungsgläubige vermeintlich wieder kontrollierbar. Der George Soros ist eine Projektionsfläche für Menschen, die im eigenen Leben nicht klarkommen, und heute über das Internet leichter denn je sich jeden Tag ihre Dosis Antisemitismus und Verschwörungsmythen abholen können. Aber wenn es dann noch Leute gibt, die damit Geld verdienen, indem sie da Werbung schalten und ihre Produkte anbieten, dann ist das natürlich der perfekte Sturm, und dann verstehen Sie, warum auch gutbürgerliche Leute sich teilweise innerhalb weniger Wochen oder Monate in hasserfüllte, ja zum Beispiel auch Impfgegner verwandeln.

Wenn der Herr Professor den Angstmarkt bedient

 FJ: Das heißt, wir haben es hier auch mit einer Szene zu tun, die in Teilen versucht solche antisemitischen Bezüge zu verschleiern und unkenntlich zu machen. Gleichzeitig fällt mir immer wieder auf, dass wir bei dieser Goldanleger-Szene oder bei diesen Crashpropheten gleichzeitig Leute haben, die sehr mit ihren akademischen Titeln hausieren gehen. Die sehr genau darauf achten, dass ihr Doktortitel, der Professor, immer mitgenannt wird. Inwiefern versucht diese Szene auch, sich eine künstliche Seriosität, nenne ich es mal, zu schaffen?

MB: Das ist natürlich ganz wichtig. Wenn sie Leute dazu bringen wollen, dass die ihnen nicht nur ihre Stimme, sondern auch ihr Geld geben, dann müssen sie seriös sein. Der Klassiker ist, dass sie sagen, „ich war selber ja da dabei, aber ich konnte dieses Spiel nicht mehr mitmachen“. Otte, der dann sagt, er war an der Hochschule, aber er wollte jetzt Unternehmer werden und die Freiheit leben. Andere bringen es dann auch noch krasser. Aber man muss sich natürlich auch klar machen, dass da ein enormer Markt entsteht. Das heißt also, für einzelne Ärzte oder für einzelne Professoren kann das sehr attraktiv sein. Wenn sie dieses Bedürfnis befriedigen und sagen, ich bin jetzt derjenige, der euch die Wahrheit bringt, dann haben sie plötzlich eine Riesen-Anhängerschaft, und die Leute schmeißen ihnen auch noch das Geld hinterher. Für einen Mann – es sind häufiger Männer –, der vielleicht den Zenit seiner Karriere schon überschritten hat und wo es auch in der Familie nicht mehr so gut läuft, keiner hört mehr auf ihn, alles ist Mist – da ist plötzlich nochmal ein ganz neues Betätigungsfeld. Plötzlich jubeln ihm die Menschen zu und er kann sich vor Schenkungen und so weiter kaum retten. Das ist verführerisch. Deswegen haben wir da auch immer Leute, die vielleicht mal ein durchaus liberales Leben gelebt haben früher, die dann aber umkippen, wo man fragt, „was ist denn jetzt eigentlich mit dem los? Der war doch früher mal Professor der Finanzwissenschaft oder war bei Transparency International aktiv? Jetzt ist der ja gar nicht wiederzuerkennen.“ Es gehört eine gewisse autoritäre Persönlichkeitsstruktur dazu; man muss es genießen, mit Ängsten zu arbeiten und Menschen kontrollieren zu wollen. Aber dann schreibe ich auch gerade den WirtschaftsfreundInnen ins Stammbuch, ist doch klar. Dann gibt es eine Nachfrage verängstigter Menschen und die suchen sich dann ihr Angebot. Es gab auch Verschwörungsschwurbler wie den Daniele Ganser aus der Schweiz, die am Anfang versucht haben, auf die Covid-19-Pandemie vergleichsweise moderat zu reagieren. Aber das wollte dieses Publikum nicht hören. Und selbst ein Donald Trump wird ausgebuht, wenn er jetzt plötzlich verkündet, die Leute sollten sich impfen lassen. Also Verschwörungsgläubige suchen sich Anführer, die ihnen auch ihre Angst- und Verschwörungsmythen bieten. Und das ist ein Riesenmarkt, und deswegen, klare Ansage: wir werden auch in Zukunft immer mal wieder den einen, seltener die eine, Professoren und Professorinnen haben, die völlig am Stock gehen und davon leben, dass sie sich als Verschwörungsverkünder neu auf den Markt werfen.

FJ: Es sind ein paar Schlagworte gefallen, wie Freiheit, liberal, libertär. Ich würde jetzt gern an der Stelle nochmal kurz vertiefen. Es gibt neben dem, was wir als liberal kennen, was wir vielleicht auch als neo-liberal kennen, nochmal eine politische Richtung innerhalb des Liberalismus, die noch radikaler den Staat aus allem raushalten wollen. Fällt das für Sie unter das Schlagwort libertär, wie füllen Sie den Begriff?

Guter Markt,  böser Staat

 MB: Ich  komme ja selber und ich fühle mich auch heute noch als Liberaler. Wie gesagt, meine Eltern haben ja den Sozialismus erlitten. Den freiheitlichen Rechtsstaat finde und fand ich total wichtig. Ich komme aus einer Familie, die es erlebt hat, was es bedeutet, wenn es keine Grundrechte mehr gibt, wenn Menschen bespitzelt, eingesperrt werden können. Mein Vater ist gefoltert worden, wir haben das alles erlebt. Und deshalb ist so eine liberale, freiheitliche Sache mir ein großes Anliegen gewesen. Ich war dann auch in Vereinigungen wie der Hayek-Gesellschaft dabei. Und habe es erlebt und dann auch mitbekommen, wie sich Leute immer weiter radikalisiert haben. Da ging es nicht mehr um Kritik an Politik oder am Staat, sondern das wurde immer heftiger. Am Anfang haben ich und ein paar andere noch versucht dagegenzuhalten, gegen Eigentümlich Frei, so eine libertäre Zeitschrift; da hat man selber noch versucht zu argumentieren, aber die waren überhaupt nicht aufzuhalten. Eine große Rolle haben zum Beispiel Bücher von Roland Bader gespielt. Das ist jemand, den man in der Öffentlichkeit kaum kennt, aber dessen Bücher gezielt genutzt wurden, um vor allem junge Liberale, also junge Menschen wie mich, damals zu radikalisieren. „Hier Michael, komm, nächste Woche kommst du aufs Seminar, es wird richtig schön, first class. Und hier das Buch, das musst du unbedingt lesen.“  Und wenn Sie ein junger Mensch sind, der wie ich aus einer Arbeiterfamilie kommt und aufsteigt, dann ist das erst mal verführerisch.

Und was macht der Roland Bader, so als Rechtslibertärer? Er spaltet die Welt auf in einen guten Markt und einen bösen Staat. Der Staat ist immer böse, ganz egal, was er tut. Und wenn man diesen Vulgärliberalismus, der im Staat nicht mehr etwas sieht, das man gewaltenteilig kontrollieren sollte, sondern etwas, das immer böse ist, dann werden nach kurzer Zeit zum Beispiel LehrerInnen zu Agenten der Umerziehung. Oder PolitikerInnen sind dann natürlich nur Ausführende einer Verschwörung. Und nur ich nenne das Dualismus: das heißt die Welt wird aufgespalten in absolut gut,  – das ist in dem Fall der Markt – , und absolut böse, das ist der Staat. Damit wird Komplexität reduziert, und das ist schon der erste Schritt in Richtung von Verschwörungsglauben und Antisemitismus.

Ich habe mich dann 2015 losgesagt, als es wirklich zu krass wurde. Ich habe gesagt, Leute, ihr spinnt doch, was hier abgeht an Rassismus, Antisemitismus! Ihr nennt euch freiheitlich, das hat doch mit Freiheit nichts mehr zu tun. Aber viele sind natürlich dabeigeblieben, und zum Beispiel dieser erwähnte Tilmann Knechtel ist auf großen Veranstaltungen von Libertären immer wieder zu Gast gewesen und hat sich da auch interviewen lassen. Das ist schon gruselig. Ich muss es in aller Deutlichkeit sagen: wie in den USA mit der sogenannten Tea Party bei den Republikanern, und dann mit  QAnon, so haben wir auch in Europa einen Teil der Freiheitlichen – denken wir auch an Österreich mit der FPÖ –, die in einen Markt-Staat-Dualismus und in einen Verschwörungsmythos bis hin zum Antisemitismus umgekippt sind. Der Antisemitismus kommt nicht nur von links und von rechts, er kommt eben zu einem erheblichen Teil auch von Leuten, die von sich sagen, sie wären in der Mitte.

FJ: Roland Bader: es gibt sogar einen Preis, der nach ihm benannt ist, der in dieser Szene herumgereicht wird. Ich habe hier auch ein Zitat von Roland Bader mitgebracht. Da sagt er, sobald mehr als die Hälfte der Bevölkerung eines Landes ihr Einkommen ganz oder teilweise vom Staat bezieht, ist eine Umkehr auf dem Weg in die Knechtschaft nicht mehr möglich. Die Stallgefütterten können und wollen auf ihren Futtermeister nicht mehr verzichten. Ihr Schicksal ist dann vorgezeichnet: Füttern, Melken, Schlachten. Das richtet sich gegen den Sozialstaat, und alle diejenigen, die Sozialleistungen erhalten, werden hier dargestellt als Opfer einer Diktatur.

MB: Nicht nur Sozialleistungen, sondern das wären dann zum Beispiel auch Leute wie ich, die beim Staat arbeiten, oder PolizistInnen, oder Kinder, die Kindergeld beziehen. Die werden alle dann zu Transferempfängern. Markus Krall fordert zum Beispiel dann auch schon mal die Einschränkung des Wahlrechts, dass die alle dann gar nicht mehr wählen dürften,  wirklich eine krasse Geschichte. Er spielt mit der  „Knechtschaft“, zum Beispiel auf Friedrich August von Hayek an, einen Liberalen, der sich am Anfang tatsächlich sehr stark gegen Nationalsozialismus und Sozialismus gestellt hat, aber dann im höheren Alter auch durchaus nach rechts gedriftet ist, mit Pinochet und so weiter. Und Leute wie Roland Bader bauen sich da noch drüber hinaus. Wenn Sie heute auf Twitter gucken: wenn jemand Roland Bader twittert oder sogar in der Bio hat, da kann ich Ihnen schon sagen, woher der Wind weht. Ich habe das ja nun selber wirklich erlebt. Da wird man eingeladen ins Brandenburgische und hat da ein tolles Seminar mit klugen Leuten. Und es kam sogar vor, dass ich da mal in Potsdam eine Rede gehalten habe über Religion und Demografie, denn da hat der Hayek was sehr Kluges dazu geschrieben, und ich habe da ein flammendes Plädoyer gehalten für Freiheit, Familien. Dass es doch wichtig sei, dass wir auf Traditionen schauen, die gut sind, die sich weiterentwickeln lassen. Und die einzige Reaktion war, dass ich danach abgemeiert wurde, warum ich Steuern nicht als Raub bezeichnet hätte; Steuern zahlen wäre Raub. Da habe ich gemerkt, dass es den Leuten überhaupt nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung geht. Es geht denen gar nicht darum, irgendwie zu diskutieren: wann ist es vielleicht zu viel Staat, und wie können wir das austarieren? Wir brauchen Freiheitsräume, Zivilgesellschaft, Privatunternehmen. Der Staat kann nicht alles, aber der Staat ist nicht der Feind, sondern man muss eben immer wieder gucken, was macht wo Sinn? Und das ändert sich ja auch über die Zeit. Genau dazu sind diese Leute nicht bereit, sondern für die Roland-Bader-Jünger – es sind weniger Roland-Bader-Jüngerinnen, es sind auch vor allem Männer -, ist ganz klar: der Staat ist der Feind. Und das ist alles eine große Verschwörung, und das dient dann so als Einstiegsdroge, um die Leute für den härteren Verschwörungskram empfänglich zu machen.

FJ: Stichwort Hayek-Gesellschaft: vor ein paar Jahren habe ich das zufällig mal mitgeschnitten. Dort wurde eine Jugendliche, eine junge Frau, mit einem Nachwuchspreis ausgezeichnet. Im Gedächtnis ist mir das geblieben, weil ich damals den Post etwas seltsam fand, denn in jedem dritten Satz stand, wie hochbegabt diese junge Frau wäre, und was sie für einen außerordentlichen IQ hätte. Dann, ein paar Jahre später, begegnete mir diese junge Frau wieder im Internet, inzwischen volljährig geworden. Die ist dann innerhalb kürzester Zeit zu so einer Art YouTube-Star der rechten Szene aufgebaut worden. Die verbreitet ganz massiv Verschwörungstheorien auch in die Richtung, dass der Klimawandel komplett erfunden sei – richtiggehend absurd. Da frage ich mich schon, ob man in einer Umgebung wie der Hayek-Gesellschaft nicht früher hätte drauf kommen können, wen man da eigentlich stark macht, eine Person, die heute vor allen Dingen von der Szene – Identitäre Bewegung oder Umfeld – , abgefeiert wird.

Zwanghafter Aberglaube

MB: Als ich damals dabei war, gab es durchaus auch noch vernünftige Leute, aber es begann bereits zu driften. Ich weiß auch noch, dass ich dann mal gefragt hatte: „Woher kommt eigentlich das ganze Geld, mit dem ihr uns da einladet, und mit dem ihr uns da pampert? Da kriegt man tolle Unterbringung und ist da mehrere Tage mit anderen zugange.“ Da wurde gesagt: Familienunternehmer. Das ist zum Beispiel etwas, wo ich heute wirklich gerne wissen würde, wer da eigentlich dahintersteckt. Denn im Nachhinein erscheint es mir eben schon so, dass man gezielt geschaut hat, wer taugt etwas, wen können wir aufbauen. Das waren dann teilweise Leute, die einfach gesagt haben, sie wollen, dass der Staat nicht noch weiter wächst, dass die Steuersätze niedrig bleiben. Okay, da kann man vielleicht sagen, schmutziges Lobbying. Aber dann auch Leute, die mit Verschwörungsmythen gearbeitet haben, wo mehr dahinter steckte, wo ein Hass dahinter steckte.

Ich  bin froh, das noch erkannt zu haben, dass das einfach eine Richtung ist, die nicht mehr liberal ist. Ich vertrete die These, dass man keinen Liberalismus ohne Popper bekommen kann. Karl Popper, der große Liberale, „Die offene Gesellschaft“, sagt eben, eine Theorie ist nur so lange eine Theorie, wie ich sie überprüfen und also widerlegen kann. Deswegen spreche ich auch nicht von Verschwörungstheorien, denn das sind keine Theorien. Popper erkannte das schon; er sagte, Verschwörungstheorien sind Aberglauben; sie wissen immer schon vorher, wer angeblich schuld ist: „der Globalist“, „der Marxist“, „der Kapitalist“, „der Jude“. Das heißt, ein Verschwörungsgläubiger denkt nicht mehr wissenschaftlich, für den steht immer schon fest, zum Beispiel: die Covid-19-Pandemie dient der Bargeld-Abschaffung. Es ist sozusagen zwanghaft. Alles was passiert, wird in diese Verschwörungserzählung gepresst. Es ist eine Mythologie, es ist keine Theorie, kein wissenschaftlicher Ansatz mehr. Und wir kriegen Liberalismus und unsere freiheitliche Gesellschaft nicht ohne Popper, das heißt, nicht ohne die Bereitschaft, alle Aussagen auch immer wieder zu prüfen. Eine Virologin weiß eben noch nicht, was wir in zwei Jahren wissen werden, und ein Banker weiß es auch nicht. Deshalb ist es wichtig, die Grenzen des Wissens auch tatsächlich im Blick zu behalten und auf keinen Fall auszuweichen in so einen Verschwörungsmythos.

Ich kann mir richtig vorstellen, wie junge Leute, die klug genug waren, um die Sprechblasen wiederzugeben, aber nicht klug genug, um zu durchschauen, was mit ihnen gespielt wird, da über Jahre hinweg manipuliert worden sind. Irgendwann kommt man da auch nicht mehr raus. Man hat da einen Freundeskreis, es steckt viel Geld drin, man hat sich in der Öffentlichkeit damit geoutet, man ist in Abhängigkeiten von Förderern, von Leuten, die einem viel ermöglicht haben. Man ist vielleicht auch sehr dankbar, vielleicht hat man sogar die Beziehungen in dem Bereich, und dann ist ein Ausstieg eher mit einem Sektenausstieg zu vergleichen. Der rechtslibertäre Bereich, den wir in den USA bei QAnon und bei uns im Bereich Querdenken & Co. sehen, ist kein Bereich, wo Menschen wirklich frei wären, sondern ist ein Bereich, wo gerade auch junge Menschen angelockt und über Jahre hinweg in Verschwörungsmythen und Abhängigkeiten – ja, ich sage mal, reingebunden werden. Deswegen ist das auch überhaupt nicht lustig.

Die Religion, in der es Bonbons regnet

FJ: Wie kann man darauf reagieren? Braucht es nochmal gezielte Bildungsangebote, die eigentlich genau diese Szene in den Blick nehmen, weil unsere Bildungsangebote, die wir meinetwegen im Bereich Rechtsextremismus haben, nicht wirklich auf diese Denkweise passen?

MB: Das ist tatsächlich das, was ich ja auch in meiner Arbeit sehr stark versuche. Antisemitismus, zum Beispiel: viele Leute denken bei „Semitismus“ immer noch, Semiten wären eine Rasse oder eine Sprachgruppe. Völliger Quatsch, es gibt keine Menschenrassen und es gibt auch keine semitischen Sprachen, das hat der (????) im 19. Jahrhundert gegen Juden und Araber formuliert, es wird aber leider immer noch in den Sprachwissenschaften tradiert. Faktisch ist es so, dass in der jüdischen Überlieferung der Noah-Sohn Sem der erste Begründer einer Schule ist, der Erste, der in Alphabet-Schrift gelehrt habe. Das finden wir im Talmud, in der Auslegung, oder auf Deutsch in der Jüdischen Allgemeinen; wer da mal reinschauen möchte: es ist alles im Internet. Sem gilt als der Begründer der Schule. Jedes Kind – also nicht jedes jüdische Kind, denn wir haben ja nach Noah noch gar kein Judentum, Moses kommt ja erst sehr viel später -, jedes Kind soll Lesen und Schreiben lernen. Der Begriff der Bildung, den Sie gerade verwendet haben, kommt auch daher, aus der Thora. Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen, und deswegen besteht eine Verpflichtung nicht nur der Eltern, sondern der ganzen Gemeinde, jedes Kind zu bilden. Im Judentum ist die Coming-of-age-Zeremonie die Bar Mizwa, – also das, was im Evangelischen zum Beispiel die Konfirmation wäre – , und die besteht daraus, dass das Kind liest. Es wird in die Synagoge bei seinem Namen gerufen und es liest. Dann jubelt die ganze Gemeinde, und von den Tribünen regnet es Bonbons. Ich war ein paarmal dabei, und ich habe jedes Mal eine Gänsehaut gekriegt. Denn es ist eben die erste Religion gewesen, die darüber gejubelt hat, wenn die Kinder lesen und schreiben können. Und zwar alle Kinder. Und deswegen konnte auch ein zwölfjähriger Jehoschua, den wir Jesus nennen, im Alter von 12 Jahren im Tempel von Jerusalem drei Tage mit den Schriftgelehrten rumnerden. Das war ein Arbeiterkind, ein Handwerkersohn! Aber damals gab es eben nur in Israel die religiöse Pflicht, dass auch die Kinder von Handwerkern selbstverständlich Lesen und Schreiben gelernt haben. Und wir verstehen: der Antisemitismus wendet sich gegen Bildung, gegen Wissenschaft, der ist voller Neid und Hass darauf, dass da ein Volk entstanden ist, eine Religionsgemeinschaft, die sich auf Schrift und Bildung bezogen hat. Wo es Juden und Jüdinnen aller Hautfarben gibt, die aber gemeinsam sagen: Lernen ist wichtig. Und wo es dann natürlich auch viele Nobelpreise gibt. 0,2 Prozent der Weltbevölkerung sind jüdisch, aber 20 Prozent aller Nobelpreise, die jemals verliehen worden sind, sind an jüdische Preisträger gegangen. Das hat nichts mit Genetik zu tun, das hat nichts mit Rassenlehre oder Verschwörungen zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit einer Kultur, die schon vor Jahrtausenden angefangen hat, jedem Kind Lesen und Schreiben zu vermitteln.

Und das wünsche ich mir, das ist eigentlich der Kampf gegen Antisemitismus: dass wir nämlich Bildung begreifen als einen Auftrag, Menschen zu befähigen, Wissen zu erwerben, Lesen und Schreiben zu lernen, mit Ängsten umzugehen, mit Vielfalt umzugehen. Eine Welt ohne Antisemitismus wäre wirklich eine freiere Welt, auch weil weniger Menschen Angst hätten vor nur eingebildeten Weltverschwörungen. Wer den Antisemitismus und die Verschwörungsmythen nur der Juden zuliebe bekämpfen will, der hat es meines Erachtens gar nicht begriffen. Wenn wir nicht wollen, dass Menschen so abstürzen wie Xavier Naidoo oder Attila Hildmann, so hasserfüllt sind, wie wir das ja auch in der Geschichte immer wieder erlebt haben, sich selber auch schaden – denken wir nur an die Leute, die sich nicht impfen lassen, weil sie denken, da steckt eine Verschwörung dahinter; die in den USA sterben, weil sie ungeimpft sind, und nicht einsehen wollten, dass sie das hätte schützen können – , da sage ich: Wir sollten den Antisemitismus bekämpfen zugunsten aller Menschen,  und übrigens auch derjenigen, die ihr Geld falsch anlegen, weil sie sich einreden lassen, es käme bald der Crash und sie müssten jetzt unbedingt noch Gold kaufen.

Rechnen Sie nicht mit Dankbarkeit

FJ: Das wäre eine grundlegende Strategie, dass wir sagen, wir brauchen eine Kultur, in der Bildung mehr in den Fokus gerückt wird. Bis es dahin gekommen ist, braucht es Leute wie Sie, die darauf aufmerksam machen, wenn Narrative ins Antisemitische abdriften. Das führt auch mal dazu, dass man angezeigt wird, dass eine Unterlassungserklärung etc. gefordert wird. 

Ich habe mich einmal mit Ruben Gerczikow unterhalten, dem Vizepräsidenten eines Zusammenschlusses jüdischer Studierender in Europa. Der meinte, das Problem in der deutschen Debatte sei, dass beim Sprechen über  Antisemitismus innerhalb von Minuten nur noch über den Antisemitismus-Vorwurf debattiert wird und nicht mehr über den Antisemitismus selbst. Sehen Sie das auch so? Sind wir da in Deutschland in der Debatte zu schnell dabei, darüber zu diskutieren, warum jemand kein Antisemit sein kann, weil er ja in  seiner Biografie  dieses und jenes schon getan hat? Also sind wir zu schnell dabei, Leute zu verteidigen und verlieren dabei den eigentlichen Fall zu schnell aus dem Blick?

MB: Ja, das kann ich aus eigener wirklich Erfahrung bestätigen. Ich habe mich ja um das Amt als Beauftragter gegen Antisemitismus nicht beworben. Ich wurde von den jüdischen Gemeinden vorgeschlagen. Die hatten mich vorher nicht gefragt, sonst hätte ich es mir vielleicht überlegt. Aber es ist natürlich extrem unbeliebt. Mal abgesehen von Trollen und Hatern und Rechtsextremisten und so weiter, auch in den USA, was man da alles erlebt, das ist wirklich heftig. Aber auch ganz normale Leute wollen nicht über Antisemitismus reden. 

Die häufigste Begrüßung, die ich bekomme, ist: „Also Herr Blume, Ihre Arbeit, die ist total wichtig, aber machen Sie sie bitte woanders.“ Das nervt. „Wir würden gerne einen Vortrag von Ihnen haben über islamischen Antisemitismus, oder linken Antisemitismus.“ Also jeder möchte gerne über den Antisemitismus der anderen sprechen. Um das den anderen vorzuwerfen, ist Antisemitismus toll. Aber bei mir selber? Nee, das kann ja nicht sein. „Ich habe übrigens jüdische Freunde, und wenn ich BDS unterstütze, dann ist das doch kein Antisemitismus.“  Da ist so eine Abwehrstrategie eingebaut, dass man sich nicht mit sich selber auseinandersetzen möchte. Das trifft auf den Antisemitismus zu, aber auch auf Rassismus und Frauenfeindlichkeit. 

Und wenn ich das dann hin und wieder mal deutlich mache, zum Beispiel bei der Buchstabiertafel, aus  der die Nazis alle jüdischen Namen rausgeschmissen  hatten und es dort einmal geheißen hat  „N wie Nathan“ und  nicht „N wie Nordpol“ ,  so dass also die großen deutsch-jüdischen, biblischen Namen rausgeschmissen wurden  –  glauben Sie ja nicht, dass da die meisten Leute dankbar sind über diese Information!  Es gibt welche, die dankbar sind, die sagen: „Ah, das ist ja interessant, das habe ich gar nicht gewusst. Ich ändere das, ich will den Nazi-Nordpol – wo die gedacht haben, da kommen die Arier her – , nicht  in meinem Sprachgebrauch haben, also in der Buchstabiertafel“. Aber ganz viele andere Menschen schreiben wütende Briefe oder E-Mails, wie ich nur darauf komme, sie daran zu erinnern. Und sie seien doch wohl keine Nazis, weil sie immer noch „Nordpol“ sagen. Ich habe es ja auch getan, ich wusste das ja auch nicht. Ich habe es ja auch erst als Wissenschaftler entdeckt. Aber rechnen Sie nicht mit Dankbarkeit, wenn Sie zum Thema Antisemitismus arbeiten.  Wenn Sie es ehrlich tun, verlangen Sie von Menschen letztlich, auch die eigenen Traditionen und sogar die eigenen Vorurteile und Ressentiments zu überprüfen. Das macht niemand gerne, das fällt uns allen total schwer.

FJ: Entsprechend müssen wir wahrscheinlich auch nicht mit Dankbarkeit von den Ausrichtern des Go-for-Gold-Kongresses in Wiesbaden rechnen. Wir haben heute über die sogenannte Goldanleger-Szene oder auch Crashpropheten-Szene gesprochen, und Dr. Michael Blume, Landesbeauftragter gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg hat uns erklärt, wie solche Verschwörungstheorien, oder besser gesagt Verschwörungsnarrative, die dort verbreitet werden, mit Antisemitismus zusammenhängen. 

Herr Dr. Blume, vielen Dank für dieses Gespräch, insbesondere auch für die sehr persönlichen Schilderungen aus Ihrer Biografie. Das ist  wichtig, dass man offen und ehrlich auch darüber spricht, wo einem solche Phänomene selber begegnet sind. Vielleicht zum Abschluss: Welchen Tipp haben Sie ganz konkret für Menschen, die sagen, „ja stimmt, ich habe in meiner Familien-WhatsApp-Gruppe oder so auch schon von Onkel, Tante den Hinweis bekommen, leg doch mal dein Geld woanders an, es ist unsicher, probier‘s doch mal mit Gold.“ Wie kann man reagieren in so einem Fall?

MB: Wir machen gute Erfahrungen damit, nicht in die direkte Konfrontation zu gehen, weil die Leute sich dann nur noch weiter zurückziehen, sondern einfach  seriöse Informationen anzubieten. Ich hatte beispielsweise über das Thema Verschwörungsunternehmer und Goldverkauf in einem Sammelband bei Herder ein Kapitel geschrieben, und ZEIT- Online hat eine gekürzte Version davon auch online gestellt. 

Da steht zum Beispiel diese Szene drin mit der Frau, die sich beinahe ihr Geld abknöpfen lässt. Das ist kostenlos im Internet zu finden, und ich würde dafür plädieren, das einfach zur Verfügung zu stellen und zu sagen: „Hey Leute, seid vorsichtig, mit diesen Goldgeschäften wird auch viel Übles betrieben, und da stecken Leute dahinter, die es nicht gut meinen. Schaut euch das bitte an, ob die Leute seriös sind, denen ihr euer Geld anvertrauen wollt“.  Und das macht man am besten nicht, indem man in Einzeldiskussionen geht, sondern indem man einfach sagt:  wer es sich anschauen will, möge es sich anschauen. 

Unsere Erfahrung ist: Leute, die noch nicht so tief drinstecken, werden da oft noch gewarnt, die kommen da noch raus. Leute, die selber schon über Jahre hinweg drinstecken, ganz viel Geld versenkt haben, „Querschenken“ und Co., die kann man leider nicht mehr erreichen. Manchmal helfen auch Fragen: „Woher weißt du das, welche Quellen verwendest du?“  

Aber wir müssen uns klarmachen, dass auch sehr kluge Menschen – denken wir an Martin Heidegger, den großen Philosophieprofessor – trotzdem so tief in Verschwörungsmythen absinken konnten und in Antisemitismus, dass er nie wieder da rausgefunden hat. Also bitte, liebe Hörerinnen und Hörer, lassen Sie sich nicht einreden, Sie könnten da alle rausholen. Es sind erwachsene Menschen.  Bei jüngeren ist es noch einfacher, aber bei erwachsenen Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben wollen, kommt auch der Moment, wo man sagen muss, okay, hier hilft jetzt nur noch die Abgrenzung oder das Strafrecht, aber dich werde ich nicht mehr erreichen. Das ist bitter, aber auch das musste ich lernen.

FJ: Okay. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch. Ich wünsche  Ihnen noch viel Erfolg bei Ihrer Arbeit und hoffe, dass  Stimmen wie Ihre noch mehr Raum in der gesellschaftlichen Debatte finden, und dass wir zukünftig ehrlicher und offener über Antisemitismus in Deutschland sprechen können.

MB: Vielen herzlichen Dank, alles Gute!

 

 

[i] Anmerkung:

Haury9 (2006) schreibt die Entstehung des völkischen Nationalismus der Suche und dem Bedürfnis nach einer (notfalls erfundenen) Zusammengehörigkeit zu. Der Anspruch an diese Zusammengehörigkeit sei, dass sie auf mehr beruhe, als auf dem Zufall, dass eine unbestimmte Anzahl an Einzelnen ein und derselben abstrakten Herrschaft unterworfen sei (vgl. Haury 2006: 127 ff.). Mit der „Universalisierung der kapitalistischen Warenvergesellschaftung“ (ebd.: 127), wurde ein „Umbruch der gesellschaftlichen Beziehungen, Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftsformen“ (ebd.) eingeleitet.

Gleichzeitig, und damit verbunden, setzte sich im 19. Jahrhundert die bürgerliche Gesellschaft durch. Nach Grigat10 (2015) ist die vorherrschende Form der Kommunikation in der bürgerlichen Gesellschaft der gegenseitige Bezug der Menschen aufeinander als Warenbesitzer*innen (vgl. Grigat 2015: 243). Im kapitalistischen Produktions- und Tauschprozess sei eine Abstraktion angelegt, wodurch Dinge, die einen Gebrauchszweck oder den Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erfüllen, „in Form von Waren und daher als Werte erscheinen“ (ebd.). Grigat beschreibt das Verhältnis der Warenbesitzer*innen als „Willens- und Zwangsverhältnis“, da es sowohl dem Wunsch als auch der Notwendigkeit entspreche, „ihre unterschiedlichen Waren aufeinander zu beziehen“ (ebd.), sei es auch nur die eigene Arbeitskraft. Dieses „Willens- und Zwangsverhältnis“  müsse im Staat zu einem Rechtsverhältnis werden. Die im Tausch angelegte Abstraktion werde dadurch zu einer realen Abstraktion, dass die staatliche Herrschaft mit staatlicher Gewalt garantiere, dass die Menschen sich gegenseitig als Besitzer*innen von Waren anerkennen (vgl. ebd.). Ausdruck dieses Rechtsverhältnis sei das Geld, das in seiner Abstraktion wiederum diese Zusammenhange in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft darstelle (vgl. Grigat 2015: 242 f.).

Der beschriebene Umbruch sei nach Haury (2006) häufig als Bedrohung oder Katastrophe erfahren worden, was bei der Entstehung des modernen wie des völkischen Antisemitismus von Bedeutung gewesen sei (vgl. Haury 2006: 127 ff.).

Einerseits führe die Alltagserfahrung der Ohnmacht in der kapitalistischen Gesellschaft meist zu dem Glauben, der Kapitalismus ließe sich fassen, indem man ihn als die Herrschaft des Geldes sowie die Ausbeutung durch den Markt definiere, dessen Macht in der Zirkulationssphäre und damit im Banken- und Börsenkapital zu verorten sei (vgl. ebd.). Trotz dieses irrigen Glaubens sei diese Idee sehr abstrakt. Konkreter werde sie in der Vorstellung, dass Juden als Verschwörer, als konkrete Besitzer von Geld, „die Welt aus dem Hintergrund regiert[en]“ (Haury 2006: 128). Andererseits versuch(t)en die in der universalisierten kapitalistischen Warenvergesellschaftung vereinzelten und entfremdeten Burger*innen „ihre Unterworfenheit unter die abstrakte Zwangsinstitution Staat erklären und ertragen zu können“ (ebd.: 129).

Das „Wahnbild des Zwillingspaares von ›Volk und Nation‹“ (ebd.) entstand durch die blinde und vergebliche Suche nach einer konkreten und vermeintlich natürlichen Gemeinschaft, ebenso wie durch das Streben der Atomisierten nach einer „Identität der ›guten‹ Herrschaft mit den Beherrschten“ (ebd.). Diese völkische Identität des Deutsch-Seins mit ihrer Idee einer homogenen Volksgemeinschaft konnte/könne nicht geschaffen werden, ohne den Kampf gegen die Juden als nicht klar zuzuordnende Gruppe. Die Juden wurden eben nicht als Volk betrachtet, sondern als Bedrohung der homogenen Volksgemeinschaft.

Das Bekämpfen der Juden sei in dieser Ideologie mindestens intendiert, wenn nicht in aggressiver Verfolgung praktiziert (vgl. ebd.). Aufgrund der konstitutiven Verbundenheit des nationalen Selbstbildes mit dem antisemitischen Fremdbild in der Semantik des modernen Antisemitismus, plädiert Holz (2001) sogar dafür, von einem nationalen Antisemitismus, statt von einem modernen Antisemitismus zu sprechen (vgl. Holz 2001: 16 f.). Entsprechend Haurys Darstellungen werde im modernen wie im völkischen Antisemitismus versucht, die kapitalistische Gesellschaft und die damit einhergehenden Herrschaftsverhältnisse, Herrschaftsformen sowie die allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen zu deuten. Das Abstrakte, welches die Grundzusammenhange dieser Gesellschaft ausmache, werde von den Subjekten nicht begriffen. Die Subjekte würden in der kapitalistischen Gesellschaft leiden und richteten ihre ohnmächtige Wut und ihren Hass, die dem Abstrakten gelten, auf ein konkretes, wehrloses Ziel (vgl. Haury 2006: 127 f.). Dieses falsche Ziel sei ihre Idee vom Juden (vgl. Haury 2006: 127 f.; Salzborn 2018: 62). Die Projektionsfläche dieser Idee vom Juden, der für die Antisemit*innen alles Abstrakte und damit Verhasste repräsentiere, seien Jüdinnen und Juden und alles sowie jede*r, der*die von Antisemit*innen als verhasst und damit als jüdisch identifiziert werde. Wobei als abstrakt und damit verhasst und jüdisch die Moderne, die Aufklarung mit ihrem Prinzip der Individualität, mit ihrem

Pluralismus, ihrem Freiheits- und Gleichheitsversprechen und ihrer Vorstellung vom Menschen als politischem Subjekt insgesamt gelte (vgl. Salzborn 2018: 21 ff., 139 f.).

 So sei die Ideologie des modernen Antisemitismus nach Salzborn (2018) nicht nur auf das rechte Spektrum beschränkt, sondern komme überall dort vor, wo die Strukturdimensionen bürgerlicher Vergesellschaftung wenig oder gar nicht hinterfragt oder reflektiert würden (vgl. Salzborn 2018: 22). Er bezeichnet den modernen Antisemitismus zusammenfassend als „die Unfähigkeit und Unwilligkeit […], abstrakt zu denken und konkret zu fühlen. Der Antisemitismus vertauscht beides, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein, wobei die nicht ertragene Ambivalenz der Moderne auf das projiziert wird, was der/die Antisemit/in für jüdisch halt“ (Salzborn 2018: 23).abian

Quellen zum Exkurs

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Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
Butter, Michael (2020): Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart, [online],
https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/321665/antisemitische-verschwoerungstheorien [07.09.2021].
Grigat, Stephan (2015): Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg: ca ira Verlag.
Haury, Thomas (2006): Zur Logik des Bundesdeutschen Antizionismus, in: Leon Poliakov (Hrsg.), Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Freiburg: ca ira Verlag, S. 7 – 20.
Holz, Klaus (2001): Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg: Hamburger Edition.
Holz, Klaus / Kiefer, Michael (2010): Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungsstand, in: Wolfram Stender / Guido Follert / Mihri Ozdogan (Hrsg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden: VS Verlag, S. 109 – 138, [online], https://webvpn.hs-rm.de/sslvpn/PT/https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-531-92234-8 [17.11.2018].
Konicz, Tomasz (2021): Die Rothschilds als antisemitisches Feindbild, [online], https://www.heise.de/tp/features/Die-Rothschilds-als-antisemitisches-Feindbild-6027349.html?seite=all [07.09.2021].
Mendelson, Ben (2021): Die zehn reichsten Familien der Welt, [online], https://www.wiwo.de/erfolg/trends/milliardenvermoegen-die-zehn-reichsten-familien-der-welt/26829046.html [07.09.2021].
Salzborn, Samuel (2018). Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Schu, Anke (2017): Inter-generationelle Narrative muslimischer Jugendlicher, in: Meron Mendel /Astrid Messerschmidt (Hrsg.), Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 77 – 100.
Schwarz-Friesel, Monika / Reinharz, Jehuda (2013): Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin und Boston: De Gruyter.
Sabiers, Linda Rachel (2019): Ich schämte mich, als Jüdin kein Geld zu haben, [online], https://sz-magazin.sueddeutsche.de/mein-deutsch-juedisches-leben/juden-geld-vorurteil-finanz-87612 [07.09.2021].
Wittich, Elke (2014): Für Frieden, gegen Rothschilds, [online], https://www.juedische-allgemeine.de/politik/fuer-frieden-gegen-rothschilds/ [07.09.2021].
Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. (2021): Berufsfelder der jüdischen Bevölkerung im Mittelalter, [online], https://www.schum-staedte.info/gemeindeleben/berufe.html [07.09.2021]