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„Das ewige Raunen von der Weltverschwörung“

Von strukturellem Antisemitismus und Verschwörungsmythen
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Ergänztes Transkript des Videos

Triggerwarnung: Im folgenden Gespräch werden antisemitische Erzählungen und Codes angesprochen und beschrieben, um deren Geschichte und Bedeutung zu erschließen.

Paul: In diesem Gespräch geht es darum, wie sich Antisemitismus verbreiten kann, ohne dass Juden*Jüdinnen überhaupt erwähnt werden, wie Verschwörungsmythen und Antisemitismus zusammenhängen und warum wir diese Themen im Zusammenhang mit dem sogenannten „Go for Gold Wertekongress“ im September 2021 im Rhein Main Congress Center problematisieren.

Paul: Mein Name ist Paul Henninger und ich bin Projektmitarbeiter bei „Spiegelbild – Politische Bildung aus Wiesbaden“.

Verena: Mein Name ist Verena Delto und ich bin Bildungsreferentin bei „Spiegelbild – Politische Bildung aus Wiesbaden“.

Paul: Spiegelbild macht politisch-historische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Heute unterhalten wir uns im Rahmen der Online-Reihe zur Kritik am „Go for Gold Wertekongress“ erstmal allgemein über die Frage, was eigentlich Verschwörungsideologien mit Antisemitismus zu tun haben. Im ersten Teil stellen wir die Frage, was das überhaupt ist: Antisemitismus; bzw. auch struktureller Antisemitismus? Anschließend werden wir dann nochmal auf zwei Beispiele blicken, in denen beides gemeinsam auftaucht.

Wie funktioniert eigentlich struktureller Antisemitismus?

Wenn der Holocaust geleugnet wird oder wenn jemand offen gegen Juden hetzt, sind sich hierzulande alle einig, dass das Antisemitismus ist. Aber wenn es um nicht so leicht zu erkennende Formen von Antisemitismus geht, dann fällt schon auf, dass das, was in öffentlichen Debatten gesagt wird, ganz schön davon abweicht, was in der Antisemitismusforschung diskutiert wird.

Wie würdest du denn erklären, was Antisemitismus ist?

Verena: In der Fachliteratur halten z.B. Holz/Kiefer fest, dass in antisemitischen Stereotypen der Moderne ≫die Juden≪ „das Geld, die Börse, das Finanzkapital, die Presse“ verkörper(te)n (Holz/Kiefer 2010: 121). In diesem Phantasma von Macht und Verschwörung würden ≫Juden≪, mittels dieser „zentralen modernen Machtmittel“ (ebd.), über eine verborgene, weltumspannende Macht verfügen, welche eine Bedrohung für „alle Völker, Religionen und Kulturen“ (ebd.) darstelle.

Ich setze hier den Begriff ≫Juden≪ in Anführungszeichen, da es sich allein um die antisemitische Idee davon handelt, wie ≫die Juden≪  sein würden.

Anonyme und sozialstrukturelle Prozesse werden über solche antisemitischen Verschwörungserzählungen erklärt. Durch die Personifikation von Macht erschienen und erscheinen historische Ereignisse oder sozialer Wandel als beabsichtigt und geplant (vgl. ebd.). ≫Die Juden≪ wurden und werden im Antisemitismus als die Täter verantwortlich gemacht und v.a. für das vermeintliche Negative, was damit verbunden wird. Sie werden im Antisemitismus z.B. verantwortlich gemacht für den Kommunismus wie für den Finanzkapitalismus (vgl. Salzborn 2018: 64 ff.). Das klingt erstmal widersprüchlich, hat aber gemeinsam, dass beides als Bedrohung für beispielsweise völkische Traditionen gesehen wurde und wird. ≫Juden≪ wird dabei zugeschrieben, dass sie angeblich auf der Basis einer zersetzerischen, bösen Absicht diese zerstören wollten.

Diese Weltanschauung erfüllt für Menschen, die einem antisemitischen Weltbild anhängen, verschiedene Funktionen. Dazu zählt, dass sie für die eigenen Unsicherheiten in ihrer aktuellen Lebenssituation nicht mehr selbst verantwortlich scheinen. Auch die Bedingungen einer komplizierten Welt werden als Ursache vermeintlich irrelevant. Diese sind schwer zu erfassen und werden in der Regel nicht verstanden. Die Schuld wird dann beispielsweise der Familie Rothschild zugeschrieben.

Paul: Ok, es werden quasi Stereotype genommen, und die werden konkret der Gruppe der ≫Juden≪ zugeschrieben. Und mit dem tatsächlichen Verhalten von Jüdinnen und Juden hat das gar nichts zu tun. Aber was ist denn, wenn diese gleichen Stereotype vorkommen, aber das Wort ≫Jude≪ gar nicht fällt?

Verena: Das ist das, was in der Fachliteratur struktureller Antisemitismus genannt wird. Die Definitionen sind nicht ganz einheitlich. So argumentiert u.a. die Amadeu Antonio Stiftung, das struktureller Antisemitismus ein Antisemitismus noch ohne Juden ist (vgl . Lelle / Balsam 2020).  „Der strukturelle Antisemitismus erzählt die Geschichte von der mächtigen, raffgierigen Elite, die im Geheimen agiere und das Weltgeschehen lenke“ (ebd.). Diese Elite steht für das eigentümlich Fremde sowie für das (vermeintlich) ultimative Böse in der Welt (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 59 f.). Bei strukturellem Antisemitismus handelt es sich, in einer Definitionsannäherung der Amadeu Antonio Stiftung, um eine Verschleierung des Antisemitismus (vgl . Lelle, Nikolas / Balsam, Johanna 2020).

Paul: Das ist dann trotzdem noch eine Form von Antisemitismus, weil ≫Juden≪ zwar noch nicht genannt werden, die Zuhörerinnen das aber zu Ende denken? Wie kommt es denn dazu, dass die das auch machen?

Verena: Monika Schwarz-Friesel (2018) hält fest, dass Hass gegen ≫Juden≪ in codierter Form auftreten kann. Der Amadeu Antonio Stiftung zufolge werden bewusst oder unbewusst Codes und sprachliche Bilder benutzt, die antisemitische Stereotype ansprechen, ohne sie explizit erkennbar zu machen. Viele der antisemitischen Stereotype sind dabei Teil des gesellschaftlichen Wissens und werden somit von allen verstanden, wenn auch nicht unbedingt geteilt (vgl. Lelle, Nikolas / Balsam, Johanna 2020).

Andere antisemitische Stereotype, die oft auch bewusst eingesetzt werden, werden so codiert, dass sie von „Eingeweihten” oder „Erwachten” verstanden werden, während sie aus juristischer Perspektive aktuell (noch) nicht relevant sind. Eine solche Strategie verfestigt die eigene Gruppenidentität und Abgrenzung gegenüber „Nicht-Eingeweihten“ (vgl. ebd.). Das ist z. B. aktuell bei verschiedenen Verschwörungserzählungen um Corona zu beobachten.

Zudem wurden nach der Shoah, dem industriellen Massenmord an Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus, die „Gren­zen des Sagbaren“ deutlich markiert. Offener Antisemitismus wurde tabuisiert. Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, dass der Antisemitismus selbst aus Deutschland verschwunden oder zu einem Randphänomen geworden sei (vgl. ebd.). Monika Schwarz-Friesel (2017) beschreibt Antisemitismus als ein „Chamäleon“, da er sich in seinen Erscheinungsformen immer an gesellschaftliche Gegebenheiten anpasse. Der Antisemitismus nach Auschwitz bedient sich verschiedener Codes und Chiffren, die antisemitisch aufgeladen sind, ohne direkt von Jüdinnen und Juden zu sprechen (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013).

Paul: Ah, es findet also eine Umwegkommunikation statt über das gesellschaftliche Wissen, was vorher schon vorhanden ist. Es wird etwa von ≫Strippenziehern≪  und ≫mächtigen Eliten≪ gesprochen, die die Welt mit verborgenen Plänen ins Unglück stürzen wollen, statt von ≫den Juden≪. Aber die Botschaft bleibt sonst gleich.

Verena: Genau, eine solche Umwegkommunikation erfolgt auch nicht immer bewusst. Das heißt, nicht jede Person, die von der mächtigen Elite spricht, denkt dabei an Jüdinnen und Juden. Ent­scheidend ist jedoch, dass, ob bewusst oder ungewollt, sie damit auf ein jahr­hundertealtes antisemitisches Ressentiment zurückgreift. Dieses Ressenti­ment kann, unabhängig von der Ausgangsintention, in antijüdischen Hass münden (vgl. Hermann / Rathje 2021: 40).

Der strukturelle Antisemitismus ebnet so einem offenen Judenhass den Weg (vgl. Lelle / Balsam 2020). „In vielen Verschwörungsmythen schlummern uralte antisemitische Ressentiments, die jederzeit geweckt werden können. Die Gefahr darf nicht unterschätzt werden. Die ‘Erwachten’ wissen, wer gemeint ist. Jüdinnen und Juden sowieso.“ (ebd.)

Jüdinnen*Juden sind diejenigen, die den expliziten Hass abbekommen, der sich auf die Verschwörungserzählungen bezieht.

Der antisemitische Code der Tiermetaphern

Paul: Wie sieht denn so ein Beispiel von einem antisemitischen Code aus?

Verena: Ein Beispiel solcher Codes und Chiffren des strukturellen Antisemitismus sind Tiermetaphern und Tiervergleiche, welche in der Geschichte des Antisemitismus seit Jahrhunderten elementare Stilmittel darstellen, um Juden*Jüdinnen zu entmenschlichen (vgl. Büchner 2021).

Der strukturelle Antisemitismus hetzt nämlich auch hier nicht direkt nicht gegen ≫die Juden≪ – sondern in diesem Beispiel gegen ≫das Tier≪.

Ein Beispiel ist der Bezug auf Insekten, sogenannte „Schädlinge“, wie die Heuschrecken. Im klassischen Antisemitismus ist hier auch ein Vernichtungsgedanke mit angelegt, da dies der übliche Umgang mit „Schädlingen“ ist. Sie stellen per Definition etwas existentiell Bedrohliches und gleichzeitig Wertloses dar.

Im Buch „Von Ratten, Schmeißfliegen und Heuschrecken. Judenfeindliche Tiersymbolisierungen und die postfaschistischen Grenzen des Sagbaren“ (2014) der Soziologin Monika Urban, zählen die Heuschrecken als Tiermetapher zu den niederen Tieren wie z.B. auch die Ratten und Schlangen.

Die Tiermetaphern, die Urban untersuchte, eint ihre negativen Zuschreibungen. Wie dem Fuchs z.B. Schläue zugeschrieben wird, stimmen die Merkmale, „die den Tieren zugeschrieben werden, (…) mit den antisemitischen, negativ konnotierten Stereotypen der Falschheit, Hab-/Machtgier und Verschlagenheit überein.“

In diesem Kontext wird der Begriff der ≫Heuschrecken≪ immer wieder von Menschen genutzt, die sich als die Mitte der Gesellschaft verstehen, darunter auch der SPD-Politiker Sigmar Gabriel (vgl. Gabriel 2018).  Er wird aber auch vergleichbar von linken Aktivist*innen genutzt. Wer sich dafür näher interessiert, dem sei die Ausstellung der Bildungsstätte Anne Frank „Das Gegenteil von gut – Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968“ sehr ans Herz gelegt.

George Soros als antisemitischer Code

 Paul: Das ist interessant… Mir fällt zum Thema Codes und Chiffren auch George Soros ein, denn was ich da in den verschiedenen Telegramgruppen lese, da habe ich oft das Gefühl, dass es gar nicht um ihn als Person geht, sondern sein Name wie ein Code verwendet wird. Dieser Code kann dann für alles Mögliche stehen, was schon über Soros behauptet wurde. Es geht da gar nicht um die Person selbst.

Verena: Ja, ein weiteres Beispiel von Codes und Chiffren des strukturellen Antisemitismus zeigt sich an den Erzählungen zur Figur George Soros. Patrick Gensing (2019) nennt Antisemitismus den „Uropa der modernen Fake News, wie wir sie derzeit beobachten“. Sprach- und Denkmuster klassischer antisemitischer Verschwörungsmythen fänden sich hier wieder. Das zeige sich beispielhaft an den Verschwörungserzählungen, die zu George Soros verbreitet werden.

Auch wenn sich viele Fake News gegen Geflüchtete, Menschen in der Politik oder demokratische Institutionen wenden, so können sie doch einen antisemitischen Charakter haben. Auch sie erzählen die Geschichte von der mächtigen, raffgierigen Elite, die im Geheimen agiere und das Weltgeschehen lenke. Der Schritt ist nicht weit zu klassisch antisemitischen Stereotypen über ≫die Juden≪, denen man kollektiv eine besondere Macht zuschreibt, sodass sie Medien, Wirtschaft, Regierungen oder andere gesellschaftliche Institutionen kontrollieren würden (vgl. ebd.).

Paul: Wenn man sich im Internet Videos über Soros anschaut oder Blog-Beiträgen und Kommentaren folgt, muss man annehmen Soros habe eine unheimliche Macht. Er soll verschiedene Revolutionen geplant und finanziert haben, die Regierungen zahlreicher Staaten steuern, eine neue Weltordnung (New World Order) entworfen haben und diese jetzt mithilfe gelenkter Politiker umsetzen.

Verena: Genau das stellt Gensing auch fest. In den Verschwörungserzählungen um George Soros bündeln sich all diese Stereotype. Auf ihn werden zahlreiche klassische antisemitische Ressentiments projiziert.

„Soros ist ein Feindbild für alle Fälle. Und dies funktioniert deswegen so gut, weil hier an das benannte altbewährte Narrativ der antisemitischen Verschwörung anknüpft wird“ (Gensing 2019).

Antisemitische Verschwörungserzählungen und -mythen verbergen sich oft hinter solchen Chiffren und Andeutungen (vgl. Lamberty 2020). Mittlerweile ist die Nennung George Soros in dem beschriebenen Kontext selbst zu einer antisemitischen Chiffre geworden, die u.a. für den angeblichen jüdischen Versuch steht, die Weltherrschaft zu übernehmen und die Nation zu schwächen (vgl. Gensing 2019).

Er wird zur Personifikation des ≫Juden≪, der den äußeren und den inneren Feind darstellt, zur antisemitischen Denkfigur des ≫Strippenziehers≪, diese undurchsichtige Person im Hintergrund, die Völker durch eine neue Weltordnung zerstören wolle, die Medien, Wirtschaft und gesellschaftliche Institutionen lenke (vgl. ebd.).

George Soros als antisemitischer Code – ein Beispiel

Paul: Jetzt werden wir doch mal konkret. Ich hab jetzt, wo dieser sogenannte „Wertekongress“ in Wiesbaden ansteht, auch mal geschaut, was die Referenten öffentlich kommunizieren. Dabei ist mir zu diesem Gespräch ein ganz konkreter Tweet aufgefallen.

Am 21. Februar 2019 war auf dem Twitter-Account des jetzigen Vorstandes der Werteunion und angekündigtem Referenten auf dem „Go for Gold Werte Kongress“ 2021 in Wiesbaden Max Otte zu lesen:

„Hacker haben die Accounts von George #Soros @OpenSociety Foundation geknackt. Das ganze Gruselkabinett von gegen die Staaten und Gesellschaften gerichteter #Propaganda und #Agitation kommt zum Vorschein. #Mainstream https://katholisches.info/2016/08/25/ein…“

Im Link findet sich dann ein Artikel zu Soros angeblich moralisch verwerflicher Agenda. Wie würdest du diesen Tweet einordnen?

Verena: Wenn man sich diese antisemitischen Stereotype und Chiffren vor Augen führt, die wir gerade besprochen haben, und sich dann diesen Tweet anschaut, erkennt man die strukturell antisemitischen Stereotype, die hier mit transportiert werden.

Hier wird George Soros und seiner Open Society Foundation kollektiv eine besondere Macht zugeschrieben. Mit der Benennung als „Gruselkabinett“ wird der Stiftung und Soros etwas Merkwürdiges, Eigentümliches zugeschrieben, aber auch etwas Böses. Dieses vermeintlich Böse wird zum vermeintlich besonders mächtigen Bösen, da sich seine „Propaganda und Agitation“ gegen ganze Staaten und Gesellschaften richten würde. Interessant ist, dass hier der Ausdruck „die“ Staaten und Gesellschaften verwendet wird, was impliziert, dass es sich sogar um alle Staaten und Gesellschaften handelt. Die verwendeten Begriffe und Ausdrücke im Tweet transportieren das Bild eines mächtigen Vertreters einer Elite, der eine merkwürdige, eigentümliche Organisation nutze, um das Böse oder zumindest das Unglück über Staaten und Gesellschaften zu bringen. Dies entspricht einem klassischen antisemitischen Stereotyp.

Und hier geht es nicht darum, ob Max Otte Antisemit ist oder nicht. Es geht darum, dass die Sprachbilder, die in diesem Tweet genutzt werden und die Narrative, auf die hier angespielt werden, auf jahr­hundertealte antisemitische Ressentiments zurückgreifen und damit strukturell antisemitische Botschaften transportieren.

Paul: Stimmt, über diese Verwendung des Ausdrucks „die“ Staaten und Gesellschaften bin ich beim Lesen auch gestolpert. Das klingt so, als sei Soros der Feind der Menschheit, als sei alles Böse hier in einer Person und ihrer Organisation vereint. Das passt ja sehr zu den Stereotypen, über die wir hier gesprochen haben.

Sind Verschwörungserzählungen immer antisemitisch?

Paul: Wenn ich jetzt nochmal zusammenfasse, warum Verschwörungsideologien und struktureller Antisemitismus so gut zusammen passen, würde ich sagen: Struktureller Antisemitismus beinhaltet immer auch eine Verschwörungserzählung. Wie ist das denn anders herum? Ist jede Verschwörungserzählung denn auch struktureller Antisemitismus?

Verena: Interessante Frage, da sind sich die Fachleute nicht so ganz einig.

Erstmal würde ich sagen, die wichtigsten Merkmale von Verschwörungserzählungen sind folgende (vgl. Nocun / Lamberty 2020 und Lewandowski / Cook 2020):

  • die Komplexitätsreduktion: Sie geben Antworten und Erklärungen, die eine Struktur und eine vermeintliche Sicherheit bieten für ein nicht leicht verständliches Phänomen – wie etwa das der Corona-Krise. Diese wird als unangenehm oder als Bedrohung empfunden. Verschwörungserzählungen befriedigen das Bedürfnis nach leichten, verständlichen Erklärungen, die die Komplexität des Phänomens reduzieren.
  • Dabei gibt es auch keine Zufälle. Zufälle werden so umgedeutet, dass sie in die Verschwörungserzählung integriert werden können. Dabei werden auch Zusammenhänge erfunden oder vermutet, wo es keine gibt.
  • eine Machtzuschreibung an eine kleine Gruppe,
  • die Behauptung von Manipulation aus dem Hintergrund,
  • eine Schuldzuweisung an eine kleine Gruppe
  • und das Verfügen über vermeintliches Geheimwissen (vgl. ebd.).


Diese Merkmale kommen oft auch im strukturellen Antisemitismus vor. Es gibt Parallelen, wie wir bei dem Beispiel der Erzählungen um George Soros gesehen haben.

Man kann also zusammenfassen: Struktureller Antisemitismus beinhaltet immer Verschwörungserzählungen. Verschwörungserzählungen müssen aber nicht immer strukturell antisemitisch sein.

Die Amadeu Antonio Stiftung betont, dass Antisemitismus das historische Vorbild der Verschwörungsmythen war, und auch dessen Nachfolger ist (vgl. Lelle / Balsam 2020).

Aryeh Tuchman von der Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League hält fest: »Wenn jemand an eine nicht-antisemitische Verschwörungstheorie glaubt, ist es wahrscheinlicher, dass er auch eine antisemitische Variante davon akzeptieren wird“ (zit. nach Thaidigsmann 2020).

Wir sehen da eben die Gefahren, dass Verschwörungserzählungen zumindest strukturell anschlussfähig für Antisemitismus sind. Dieser Antisemitismus ist vielleicht zunächst erstmal struktureller Antisemitismus, aber er tendiert eben dazu, zu offenem Judenhass zu werden. Zudem signalisiert auch struktureller Antisemitismus Juden*Jüdinnen deutlich genug, wie sie immer noch gesehen werden und was ihnen im Zweifelsfall droht.

Paul: Immer dann, wenn komplexe Zusammenhänge in einfachen Feindbildern personalisiert werden, sehe ich auch die Gefahr, dass das in offenen Hass gegen die Leute umschlägt, die zum Feindbild gemacht werden. Und hier sind das in der Regel Jüdinnen und Juden und alle, die dafür gehalten werden.

Verena: Ja, und aus unserer Arbeit bei Spiegelbild als Anlaufstelle Antisemitismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – gefördert durch das Amt für Zuwanderung und Integration der Landeshauptstadt Wiesbaden – wissen wir, dass so etwas passiert, auch hier in Wiesbaden.

Paul: Danke Verena, ich hoffe es ist uns ,gelungen, etwas klarer zu machen, wie Antisemitismus zu erkennen ist, auch in solchen Fällen, in denen er nicht ganz offen formuliert wird. Es war unser Anliegen, mit diesem Gespräch eine gute Grundlage zu legen für weitere Veranstaltungen im Rahmen der Kritik am sogenannten „Go for Gold Wertekongress“ in Wiesbaden. Wir sind sehr gespannt auf die kommenden Texte, Podcasts und Videos.

 
 

Quellen:

Büchner, Timo (2021):  [tacheles] Antisemitismus und Tiervergleiche — Das (ewige) Tier, Amadeu Antonio Stiftung [online],

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/tacheles-antisemitismus-und-tiervergleiche-das-ewige-tier-67533/  [20.07.2021].

Bildungsstätte Anne Frank (o.J.): Das Gegenteil von gut – Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968 [online],

https://www.bs-anne-frank.de/ueber-uns/projekte/antisemitismus-in-der-linken

Gabriel, Sigmar (2018): Die Politik muss sich im Konflikt um Thyssen-Krupp auf die Seite der Arbeiter stellen [online],

https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-die-politik-muss-sich-im-konflikt-um-thyssen-krupp-auf-die-seite-der-arbeiter-stellen/22817486.html?ticket=ST-8251529-OcjUcOnS64WWALnrz7RF-ap5 [15.07.2021].

Gensing, Patrick (2019):  George Soros – der Antichrist, in: Ders.: Fakten gegen Fake News oder Der Kampf um die Demokratie, Berlin: Bibliographisches Institut Berlin, S. 128–135.

Hermann, Melanie / Rathje, Jan (2021): Down the rabbit hole. Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien, Berlin: Amadeu Antonio Stiftung,

Holz, Klaus / Kiefer, Michael (2010): Islamistischer Antisemitismus. Phanomen und

Forschungsstand, in: Wolfram Stender / Guido Follert / Mihri Ozdogan (Hrsg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden: VS Verlag, S. 109 – 138, [online],

Lamberty, Pia (2020): Antisemitismus und Verschwörungserzählungen [online],

https://www.bpb.de/izpb/318705/antisemitismus-und-verschwoerungserzaehlungen [20.07.2021].

Lelle, Nikolas / Balsam, Johanna (2020): [tacheles] Struktureller Antisemitismus ist Antisemitismus (noch) ohne Juden, Amadeu Antonio Stiftung [online],

 https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/tacheles-struktureller-antisemitismus-ist-antisemitismus-noch-ohne-juden-66257/ [21.07.2021].

Lewandowski, Stephan / Cook, John  (2020): Das Handbuch über Verschwörungsmythen. [online],

https://www.climatechangecommunication.org/wp-content/uploads/2020/04/ConspiracyTheoryHandbook_German.pdf

Nocun, Katharine / Lambety, Pia (2020): Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Quadriga Verlag: München, Köln.

Salzborn, Samuel (2018). Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Schindler, Frederik (2018): Die Linke und die Heuschrecken, Jüdische Allgemeine [online],

https://www.juedische-allgemeine.de/politik/die-linke-und-die-heuschrecken/ [21.07.2021].

Schwarz-Friesel, Monika (2010): Ich habe gar nichts gegen Juden! Der legitime

Antisemitismus der Mitte, in: Monika Schwarz-Friesel / Evyatar Friesel / Jehuda Reinharz (Hrsg.), Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte, Berlin und New York: De Gruyter, S. 27 -50, [online],

https://ebookcentral.proquest.com/lib/senc/detail.action?docID=533637 [18.12.2018].

Schwarz-Friesel, Monika / Reinharz, Jehuda (2013): Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin und Boston: De Gruyter.

Schwarz-Friesel, Monika (2017): Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher, in: Illustrierte Neue Welt. [online],

https://www.neuewelt.at/artikel/news/vor-dem-antisemitismus-ist-man-nur-auf-dem-mond-sicherhannah-arendt/?L=0&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=0a937ef8c7d418713d19c1bc4296a5ad [01.01.2019].

Stögner, Karin (2017): Intersektionalität von Ideologien – Antisemitismus, Sexismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur, in: Psychologie & Gesellschaftskritik. Nr. 162, Heft 2 – 2017. S. 25 – 47.

Thaidigsmann, Michael (2020): George Soros als Sündenbock [online],

https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/george-soros-als-suendenbock/ [21.07.2021].

Westdeutsche Allgemeine Zeitung (2018): Gabriel fordert schärfere Regulierung von Finanzinvestoren – Ruf nach Konsequenzen im Fall Thyssenkrupp, [online],

https://www.presseportal.de/pm/55903/4014147 [01.07.2021].